Schon vor vielen Wochen erfuhr ich, dass es dieses Jahr zum ersten Mal auch eine Wintervariante meines heißgeliebten Ostseeweges geben wird. Und zwar 50 Kilometer im Februar. Inklusive Glühwein und der schönen Ostseelandschaft. Sofort war klar, da melde ich mich an. Wie immer wollte ich den Ostseeweg auch mit einem Familienbesuch verbinden und fragte meinen Dad, ob ich bei ihm nächtigen kann und ob eventuell ein bis zwei Leute mitkommen könnten, da ich sofort an Cornelius und Saskia dachte, die ja von weit her anreisen mussten. Dad war sofort einverstanden und begann sofort den Dachboden gästefertig zu bauen.
Viele, viele Wochen strichen ins Land, ich überstand die 50km Polarnacht und feierte Usedom. Und dann 3 Wochen vor dem Winterweg ging es los – die Laufprobleme waren so stark, dass endlich mein Orthopädenbesuch anstand und ich auf Nachforschung ging. Die Orthopädin hatte auch direkt einen Verdacht und schickte mich zur Überprüfung noch zum MRT und zum Neurologen. Der MRT bestätigte schnell: Bandscheibenvorwölbung. Was das nun genau hieß, keine Ahnung. Jedoch war die Ansage ganz klar: kein Joggen, dafür Physio und 50 mal Rehasport (yeha).
Pünktlich zum Befund begann dann auch mein rechter Fuß komplett verrückt zu spielen. Ein falscher Schritt und ein beißender Schmerz durchfuhr mich. Die Woche vor dem Ostseeweg verbrachte ich damit, einen Schuh zu finden, mit dem ich mehr als 3 km am Stück gehen konnte. Immerhin hatte ich ein Go fürs Wandern von der Ärztin und bekam zusätzlich eine Rückenbandage verschrieben. Zehn Tage vor dem Start schickt mir mein Dad ein Bild von einem Lottoschein und schreibt: “Schicke ich dir zu, ist dann meine Startgebühr”.
Ganz verduzt fragte ich, ob er den 100km Ostseeweg meint. Nein, nein den Winterweg in 10 Tagen. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, ihm die Idee wieder auszureden -schließlich ist er ja auch nicht mehr der Jüngste und zudem vollkommen untrainiert – zumindest was das Wandern angeht. Unbeirrt sagte er mir, ich solle ihn anmelden. “Na gut, aber nur, wenn du am Wochenende mindestens 10km trainierst”, gab ich noch hinzu. Dann schrieb ich Torsten an, ob ich meinen Dad noch anmelden kann und ob das klar geht, wenn ich es von meiner Mailadresse aus mache. Aber selbstverständlich ginge das.
Mist, ich hatte gehofft, meinen Dad noch irgendwie vor seiner eigenen Sturheit zu schützen. Dafür sagte Torsten noch, er wolle dann unbedingt ein Foto von Dad und mir im Ziel machen. Ich gab mich meinem Schicksal hin und der Freitag kam. Gegen 18 Uhr sammelte mich Cornelius zu Hause ein und wir fuhren mit Highspeed gen Klein Labenz, wo auch schon Saskia auf uns wartete. Wie wir erfuhren, ist der Schnee wenige Stunden vor unserer Ankunft geschmolzen und ich sagte schon mal kurz Danke zum Wettergott. Schnell aßen wir Abendbrot und gingen noch eine kleine Runde zum Labenzer See. In ca. 2 Stunden durften wir uns sicher zehn Mal anhören, dass mein Dad die Strecke sicher in 7 Stunden absolvieren würde. Dass er dann im Ziel wartet. Zwischendrin könne er ja schon einkaufen gehen. Hochmut kommt vor dem Fall, dachte ich und musste lachen, als er dann fragte: “Was brauch man eigentlich so an Marschgepäck?”
Eine berechtigte Frage, 11 Stunden vor dem Start… Gegen 23 Uhr machten wir uns bettfertig und ich legte mich auf die Leder-Fake-Klappcouch, die eine harte Nacht vorhersagte. Kaum war das Licht aus, hörte ich ein Surren. Bestimmt die Heizung. Musst du ignorieren. Ok, kannst du nicht ignorieren. Licht wieder an, die Suche geht los. Aha, da ist eine Uhr, die surrt. Batterien raus und entspannen. Umdrehen. Hörbuch an. Hörbuch aus. Irgendwann schlief ich ein und irgendwann war es 6 Uhr und mein Wecker klingelte. Mehr oder minder fit machten wir uns startklar. Ca. eine Stunde dauerte die Fahrt nach Kühlungsborn. Grauer Himmel begrüßte uns- naja immerhin kein Regen…. In der Sporthalle war der altbekannte Start/Zielbogen aufgebaut. Die ersten bekannten Gesichter begrüßten uns.

Nach und nach trudelten die Bacons* ein und wir sammelten uns für das obligatorische Gruppenbild. Schon vor dem Start zeigte sich mal wieder die tolle Hilfsbereitschaft der Helfer. Ich fragte nur kurz, ob jemand eine Schere hätte, damit ich mein Startarmband kürzer schneiden könnte. Nein sie hatten keine – nun gut, halb so wild. Aber nein die nette Helferin stürmte durch die Halle und ließ nicht locker, bevor sie mir die Schere besorgt hatte.

Ganz kurz nach 9 Uhr ging es los. Ungefähr 10 Sekunden war Dad bei mir und dann teilte er mir mit, dass wir ihm zu langsam liefen und er sich mal nach vorne absetzen würde. Ahja, mach mal, dachte ich mir – und war sicher, dass wir den schon wieder einholen würden. Die ersten Kilometer machten mir große Angst, da mein problematischer Fuß sich hin und wieder meldete und ich kaum abschätzen konnte, wie sich das entwickeln würde. Auch hatte ich das Gefühl, nicht in mein übliches Tempo zu kommen bzw. nur mit großer Anstrengung.
Dafür hatte ich wie immer liebe Begleiter. Wir quatschten übers Laufen, über das Leben und was eben noch so in den Kopf schoss. Mit Basti kam eine kleine Diskussion auf, ob er nicht bei der Polarnacht versprochen hätte, am Ende noch mal vorbeizuschauen – die Diskussion endete mit einer Wette um Cheesecake – die ich ganz klar für mich entschied! Nebenbei versuchte ich mich vom für mich zu schnellen Tempo und dem Fakt, dass ich anscheinend meinen Haargummi verloren hatte, abzulenken. Die Langhaarigen dieser Welt wissen, wovon ich rede. Ein fehlender Zopfgummi kann einen um den Verstand bringen. Die Flusen fallen dir ins Gesicht und beim Wandern bilden sich innerhalb weniger Stunden dicke Filzknoten- zumindest bei mir. Immer mal wieder fragte ich vorbeikommende Langhaarige, ob sie vielleicht einen zusätzlichen Haargummi dabei hätten, aber Fehlanzeige.

Wieso bitte mache ich das hier, dachte ich mir. Naja jetzt ist auch zu spät, und nachdem dein Vater nun große Töne spuckt, kannst du ja nicht so schnell die Flinte ins Korn werfen. Verwunderlicherweise kam er mir allerdings auch beim Einzug zum ersten Verpflegungspunkt nicht entgegen und ich begann mich zu wundern. Der erste Verpflegungspunkt in Rerik ist eine kleine Halle mit ein paar Bänken, Kaffee, Tee und ein Glück auch einer vegetarischen, zuckerfreien Ess-Variation. Denn ich war ja so klug, mich monatelang auf den Glühwein und die Süßwaren beim Wandern zu freuen, nur um dann 4 Tage vorher mit kein Zucker, kein Fleisch, kein Alkohol, (kein Make-Up) in die Fastenzeit zu starten.
Gemütlich und vollkommen nassgeschwitzt, schlürfe ich meinen Kaffee. Ohne Haargummi für mich reinste Folter. Immer mal wieder frage ich vorbeigehende Damen – aber wieder nichts. Die Halle leert sich und dann sagt einer der Helfer zu Jemandem: da drüben hängen auch Spiegel, falls du dich nochmal frisieren musst. Die Gunst der Stunde nutzte ich, um ein letztes Mal zu fragen, ob er in seinem Frisiersalon nicht vielleicht einen Zopfgummi hätte. Er verneinte, aber auch diesmal ließ er nicht locker. MacGyver-artig überlegte er sich verschiedene Möglichkeiten, wie er mir helfen könne und bot mir zunächst Gaffa-Tape an – was nur die Idee eines Kurzhaarigen sein konnte. Dann sah er seine Gummihandschuhe an und fragte, ob das nicht gehen würde. Ja, das ist einen Versuch wert. Ich nahm dankend zwei von ihnen an und band sie gerade zusammen, als Janine fragte, “Was machst du da mit den Handschuhen?” – “ich brauche einen Haargummi” erklärte ich. “Ja ich hab doch einen” – erwiderte sie nun. Ich musste ein bisschen lachen, band ihn mir dennoch gern um die Haare und darüber dann noch die Handschuhe, da ich die Bemühungen des netten Mannes nicht ungeachtet lassen wollte.
Weiter ging es erstmal alleine voran, da ich wusste, dass hinter mir noch einige Bacons kommen würden und ich Angst hatte, am Ende zu langsam zu sein. Bald ging es auf einen Waldweg, der leider durch den zuvor geschmolzenen Schnee zu einer grandiosen Matschpartie mutiert war. Hatte man sich jedoch erstmal daran gewöhnt, machte es glatt ganz schön Spaß, mit den verdreckten Wanderschuhen durch Matsch und Pfützen zu wandern. Vor mir stieß ich auf Astrid, die ich bisher nur so vom Grüßen und vom letzten VP beim Mammutmarsch 2017 kannte. Vor ihr lief Nicola – doch für Reden war erstmal keine Zeit, denn ich musste mich auf den Matsch konzentrieren, der sicher einige Kilometer lang vor sich hin wütete. Immer mal wieder entwich mir ein kleines Autsch, wenn mein Fuß mal falsch aufkam aber generell war ich äußerst happy, da er keine größeren Probleme zu machen schien.

Irgendwann war die Matscherei dann überstanden und ich kam mit Nicola und Astrid ins Gespräch. Und das hörte dann auch nicht mehr auf. Die Streckenposten begannen schon, sich über unser Geplappere lustig zu machen. Aber was soll man machen, wenns gerade einfach lustig ist. Wie so oft überhäufte ich die Beiden mit Fragen zu ihrem Privatleben – das ist es schließlich, warum ich gern unter Leuten bin – mich interessiert einfach, was die Anderen so erlebt haben und wie ihre Ansichten zu den Themen, die das Leben so mit sich bringt, aussehen. Nebenbei bekam ich noch eine kleine Beratung zum Thema Krankenkassenwechsel und Rehasportanträge.

Neben dem ganzen Spaß machte ich mir jedoch zunehmend Gedanken über meinen Vater, der immer noch nicht auf meine Whatsapp Nachricht: “Geht es dir gut? Übernimm dich nicht, du musst niemandem etwas beweisen” reagiert hatte. Diese Nachricht hätte ein O-Ton meiner Mutter sein können, wenn ich gerade auf einer meiner Wanderungen unterwegs bin. Da ich viele der Lieben Streckenhelferlein und Fotografen schon vom letzten Jahr erkannte, befragte ich einfach diese, ob sie vielleicht meinen Vater gesehen hätten, da sie ja immer ein ganzes Stückchen voraus fuhren. Ich beschrieb ihn also: Knallorange Jacke und blaue Mütze. Einige Zeit später schrieb mir Cornelius, dass er bereits gefragt wurde, ob er mein Dad sei. Ich hab mich halb weggeschmissen. Immer wieder erkundigte ich mich nach ihm und wurde nicht schlauer. Irgendwann schrieb er mir dann endlich und fügte ein Bild an – er war gute 10km vor mir. Ich kippte aus den Latschen.

Etwas beruhigter ging ich nun weiter. Nun konnte ich mich also getrost danach erkundigen, wie meine beiden Mitläuferinnen ihre Männer kennengelernt haben und was sie zu anderen wichtigen Fragen des Lebens denken. Bei dem 2. Verpflegungspunkt, der, da wir eine 8 liefen, wieder im Start-und Zielbereich lag, streckte mir Andreas ein durchsichtiges Zopfgummi entgegen – das hätte er gefunden – tada – es war sogar mein Eigenes. Wie praktisch so ein Zwischenstopp doch sein konnte. Im Hintergrund sagte der Ansager lustige Dinge und plötzlich vernahmen wir, dass soeben der erste Finisher ins Ziel einlaufen würde, was – wie bitte – hä? Schon ging ein junger Mann flotten Schrittes durchs Ziel. Ich war ja schon froh, dass es nicht mein Vater war, der da nach unter 6 Stunden die 50km beendete, dennoch kam man sich etwas seltsam vor, noch etwas weniger als die Hälfte vor sich zu haben. Vielleicht machten wir uns deshalb relativ fix wieder auf den Weg. Top motiviert setzten wir uns in Bewegung.
Wir lagen gut in der Zeit und ich wollte auch ungern zu lang im Dunkeln laufen – zudem sollte der Abstand zu Dad ja nun auch nicht noch ins Unermessliche anwachsen. Weiter ging es Richtung Heiligendamm, meine Muskeln begannen mehr und mehr zu meckern, da ich durch meinen fiesen Fuß alles dauerhaft anspannte. Gefühlt wuchsen meine Hinternmuskeln im Stundentakt einige Zentimeter an – war dann leider am Ende doch nicht so. “Ich will, dass es jetzt vorbei ist”, verbreitete sich jedoch immer mehr in meinem Kopf. Beim dritten und letzten Verpflegungspunkt bei 37km machten wir wieder nur kurz Pause, nur noch 13km da braucht man sich jetzt auch nicht mehr lang hinsetzen.

Wie an den anderen Verpflegungspunkten liefen uns immer wieder fast alle Bacons über den Weg – irgendwie schön, dass wir alle immer wieder so nah beieinander waren und gucken konnten, ob es noch allen gut ging. Wir gingen wieder zu Dritt weiter und wenig später kam Janine noch dazu, einige andere Bacons zogen wie die Rennwagen an uns vorbei. Nach wenigen Kilometern begann die Dämmerung – und mein Dad rufte mich an. Er war im Ziel. Nach etwas über 8 Stunden war er in der Sporthalle angekommen und ärgerte sich nun, nicht Erster geworden zu sein. Dass dies kein Wettbewerb sei und es auch kein Preisgeld gäbe, hatte er am Vorabend schon nicht verstanden. Ich sagte ihm, wie toll ich seine Leistung finde und, dass er wohl noch so 2 Stunden auf mich würde warten müssen. Augen zu und durch, die nächsten Kilometer kämpfte ich ganzschön, doch dann verquatschten Astrid, Nicola und ich uns wieder und irgendwie war dann da plötzlich die Turnhalle.
Vollkommen verwirrt konnte ich das gar nicht fassen. Diese langen Gespräche hatten echt Spaß gemacht und ich war wirklich vollkommen euphorisiert und überglücklich im Ziel und bei dieser Veranstaltung zu sein. Wir Drei packten uns an den kalten Händen und zogen unter Jubel in den Zieleinlauf.

Von allen Seiten wurden wir fotografiert und ich merkte aus dem Augenwinkel, dass neben meinem Dad auch meine Tante im Ziel auf mich wartete. Hach war das schön. Torsten, Petra und einige Bacons warteten schon und umarmten uns herzlich. Nachdem ich meine Urkunde abgeholt hatte (10h:10min), bestand Torsten tatsächlich noch auf ein Zielbild von mir und meinem Dad. Im Ziel warteten wir noch auf die restlichen Bacons, die alle kurz nach uns eintrudelten. Ca. 30 Minuten nach meinem Zieleinlauf hatten wir unser komplettes Team im Ziel – (wenn das nicht für ein gutes Training spricht) und konnten uns für das Abschluss-Gruppenfoto aufstellen.

Ich war wirklich sentimental, fast mehr als beim 100er, wenngleich nicht annähernd so zerstört wie nach 100km. Wenig später machte ich mich mit der Familie im Gepäck auf den Rückweg. Dad war ganz stolz und ich werde mir sicher für den Rest meines Lebens anhören dürfen, dass er 2 Stunden vor mir ins Ziel kam, aber damit kann ich leben. Denn als ich ihm nach seiner Teilnahme an einer 100km-Wanderung fragte, winkte er nur ab, das mache er auf gar keinen Fall.

Mal wieder hatte ich es nicht bereut, Startgeld, Fahrtzeit und Wochenende investiert zu haben, für dieses tolle Erlebnis. Ostseeweg fühlt sich mittlerweile ein bisschen an wie Familie (man freut sich sie zu sehen, später muss man die Zähne zusammenbeißen, um nicht wieder abzuhauen und am Ende ist man doch sehr traurig, wieder zu gehen 😉 ). Bei keiner anderen Veranstaltung fühle ich mich so persönlich betreut und mit meiner großen Klappe willkommen geheißen. Hier wird jedes Problemchen Ernst genommen, um uns Teilnehmern das Erreichen des Ziels zu ermöglichen und größtmöglichen Spaß zu garantieren. Mal wieder DANKE, DANKE, DANKE!
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Bacons* = meine verrückte Berliner Wandergruppe